Wenn das Gehör nachlässt, scheint der Weg zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt oder Hörakustiker für viele Menschen in Deutschland keine Selbstverständlichkeit zu sein. Eine Untersuchung der Hörgeräteindustrie ergab, dass über neun Millionen Erwachsene in Deutschland ihre eigene Hörfähigkeit als eingeschränkt einschätzen. Doch etwa ein Fünftel dieser Personen ließ ihr Hörvermögen nicht ärztlich untersuchen oder bestätigen.
Diese Zahl könnte in Zukunft noch steigen, denn inzwischen gibt es immer mehr Produkte, die zumindest leichte bis mittlere Hörminderungen ausgleichen sollen – und das ganz ohne ärztliche Untersuchung, Rezept oder Akustikertermin. Die Kosten für diese Alternativen müssen die Nutzer jedoch selbst tragen.
Ein Beispiel für solche neuen Technologien ist die sogenannte „Klangpersonalisierung“ in bestimmten Audiosystemen moderner Autos. Hierbei müssen sich die Nutzer nicht mit komplizierten Frequenzeinstellungen befassen, sondern passen den Klang über eine intuitive Steuerung individuell an. Im Kern ähnelt dieses Prinzip dem eines Hörgeräts.
Was früher High-End-HiFi-Systemen vorbehalten war, hat sich im Herbst 2024 zu einer massentauglichen Lösung entwickelt: Der Technologie-Konzern Apple hat eine neue Funktion für seine kabellosen In-Ear-Kopfhörer eingeführt, die als Hörhilfe für Menschen mit leichtem bis mäßigem Hörverlust dienen soll. Diese Funktion wurde als kostenloses Software-Update für Apple-Smartphones und -Tablets bereitgestellt. Nutzer können mit wenigen Klicks einen Hörtest durchführen, der als Grundlage für die individuellen Klangeinstellungen der Kopfhörer dient. Ziel ist es, Sprache und Umgebungsgeräusche klarer und deutlicher wahrzunehmen.
Die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA (Food and Drug Administration) hat diese Funktion im September 2024 zugelassen. Experten sprechen von einer bahnbrechenden Neuerung in der Hörakustik.
Segen oder Risiko? Die ärztliche Perspektive
Diese neue Technologie hat zwei Seiten. Einerseits senkt sie die Hemmschwelle für Menschen mit beginnender Hörminderung, sich mit ihrem Problem auseinanderzusetzen. Da die Kopfhörer bereits als Massenprodukt etabliert sind, fällt es vielen leichter, sich für eine Nutzung zu entscheiden. Der Gang zum Hörakustiker oder HNO-Arzt wird somit umgangen – für manche ein großer Vorteil, für andere jedoch problematisch.
Ärzte warnen, dass eine Hörminderung oft der Beginn einer fortschreitenden Erkrankung ist. Eine regelmäßige ärztliche Kontrolle sei daher essenziell. Besonders wichtig sei es, zunächst eine genaue Diagnose der Ursache durch einen HNO-Arzt vornehmen zu lassen.
Eine Hörminderung kann durch verschiedene Faktoren ausgelöst werden. Während bei einigen Patienten eine Hörhilfe sinnvoll sein mag, benötigen andere möglicherweise Medikamente oder sogar eine Operation. Wird fälschlicherweise eine Schallverstärkung genutzt, anstatt eine medizinisch notwendige Behandlung durchzuführen, kann das schwerwiegende Folgen haben. Ein Beispiel: Liegt die Hörminderung an einer chronischen Knocheneiterung, mag ein Hörgerät den Hörverlust ausgleichen, doch der zugrunde liegende Gesundheitszustand bleibt unbehandelt – mit potenziell gefährlichen Folgen.
In Fällen, in denen bereits eine ärztliche Diagnose einer Innenohrschwerhörigkeit vorliegt, sehen Mediziner jedoch weniger Bedenken gegenüber der Nutzung der neuen Apple-Funktion.
Chancen und Grenzen der neuen Technologie
Experten in Deutschland bewerten diese hörverbessernden Kopfhörer in erster Linie als eine Einstiegs- oder Gelegenheitslösung. Sie könnten eine Alternative für Menschen sein, die nur gelegentlich eine Hörhilfe benötigen – etwa in geräuschintensiven Umgebungen.
Sollte Apple seine Technologie jedoch weiter ausbauen und stärker in Richtung professioneller Hörgeräte gehen, könnte dies zu Konflikten mit bestehenden Patenten der etablierten Hörgerätehersteller führen.
In den USA ist die Situation bereits eine andere: Seit Ende 2022 gibt es dort eine eigene Hörgerätekategorie für sogenannte „Over-the-Counter“-Geräte (OTC). Menschen mit leichtem bis mittlerem Hörverlust können diese Geräte ohne Rezept und ohne Anpassung durch einen Akustiker direkt im Handel oder online erwerben. Die Branche ging zunächst davon aus, dass sich dieser Markt erst in einigen Jahren etablieren würde. Dennoch handelt es sich dabei weiterhin um kostenintensive Produkte, die je nach Modell mehrere hundert bis tausend Dollar kosten können.
Wendepunkt für den Hörgerätemarkt?
Apples Markteintritt könnte tiefgreifende Veränderungen in der Hörakustikbranche bewirken. Die benötigten Kopfhörer kosten etwa 280 Euro – ein vergleichsweise günstiger Preis, sofern man das notwendige Smartphone oder Tablet nicht mit einrechnet.
Der Direktor des Zentrums für Hörforschung an der University of California, Irvine, Fan-Gang Zeng, sieht darin einen Wendepunkt für den gesamten Markt. Er erwartet, dass der Wettbewerb intensiver wird, was langfristig sowohl die Nachfrage als auch die Qualität der Hörhilfen steigern könnte. Gleichzeitig betont er, dass individuell angepasste Hörgeräte weiterhin unverzichtbar bleiben werden, insbesondere für Menschen mit schwereren Hörverlusten.
Reaktionen aus Deutschland
Der Deutsche Schwerhörigenbund (DSB) sieht in der neuen Entwicklung Chancen und Risiken. Einerseits könnten die OTC-Geräte die Akzeptanz von Hörhilfen in der Gesellschaft verbessern und Einstiegshürden abbauen. Andererseits bleibt der deutsche Markt nach wie vor stark von der Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen geprägt. In Deutschland haben Versicherte Anspruch auf eine vollständig übernommene Hörgeräteversorgung durch professionelle Akustiker. Trotzdem könnte es langfristig zu einem Bedeutungszuwachs der OTC-Geräte kommen.
Besorgnis besteht auch darüber, dass Apple mit Begriffen wie „klinisch“ und „wissenschaftlich“ für sein Produkt wirbt. Das Unternehmen verweist auf eine CE-Kennzeichnung für den europäischen Markt, doch diese besagt lediglich, dass das Produkt den EU-Sicherheitsstandards entspricht – nicht, dass es als Medizinprodukt gilt.
Selbstversorgung: Praktische Alternative oder Risiko?
Die größten Unterschiede zwischen konventionellen Hörgeräten und der neuen Apple-Technologie liegen in der Optik, der Batterielaufzeit und der fehlenden professionellen Anpassung. Die Software nutzt maschinelles Lernen, um sich an verschiedene Hörsituationen anzupassen, doch die Feinjustierung bleibt eine Herausforderung.
Die Frage ist, wie gut Laien in der Lage sind, diese Einstellungen optimal an ihre individuellen Bedürfnisse anzupassen. Bei herkömmlichen Hörgeräten erfolgt oft eine langfristige Feinabstimmung durch den Akustiker, um eine ideale Sprachverständlichkeit in verschiedenen Umgebungen zu gewährleisten.
Kritiker warnen, dass die Selbstversorgung zu Frustration führen könnte. Menschen mit länger bestehendem Hörverlust sind bestimmte Geräusche möglicherweise nicht mehr gewohnt, was eine plötzliche Verstärkung unangenehm machen kann. Zudem gibt es Bedenken, dass Nutzer eine ernste Hörminderung oder zugrunde liegende Erkrankung übersehen könnten.
Fazit: Ein Wandel in der Hörakustik?
Die FDA-Zulassung basiert auf klinischen Studien mit 118 Probanden, die nahelegen, dass die Selbstanpassung einen vergleichbaren Nutzen bieten kann wie eine professionelle Einstellung. Doch viele Experten sehen weiterhin die Notwendigkeit eines gut strukturierten Versorgungssystems.
Der Deutsche Schwerhörigenbund befürchtet zudem langfristige Kosteneinsparungen bei den Krankenkassen zulasten der Patienten. In Deutschland wurden im Jahr 2023 insgesamt 1,3 Milliarden Euro für Hörhilfen ausgegeben, während Versicherte im Schnitt 1.500 Euro an Mehrkosten selbst trugen.
Letztlich bleibt abzuwarten, ob OTC-Hörhilfen das bestehende Versorgungssystem ergänzen oder verändern. Eine frühzeitige Hörgeräteversorgung kann entscheidend sein, um Folgeerkrankungen wie Demenz oder Parkinson vorzubeugen.
Langfristig könnten sich Hörgeräte sogar weiterentwickeln, um zusätzliche Gesundheitsfunktionen zu bieten – doch die zunehmende Marktmacht von Technologiekonzernen wie Apple wird kritisch beobachtet. Die Frage bleibt: Wird der Markt durch diese Innovation revolutioniert oder führt sie lediglich zu einer kurzfristigen Veränderung?
Mehr hier: Deutsches Ärzteblatt
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