Auracast wird aktuell als neue große Lösung für barrierefreies Hören angepriesen. Die Bluetooth-SIG wirbt massiv dafür, und auch viele in der Hörgeräte-Branche scheinen begeistert. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Die neue Technik hat erhebliche Schwächen – und keineswegs nur Vorteile gegenüber der bewährten Induktion.
Auf diese Umstände machte uns ein Leser in einer langen Mail aufmerksam. Wir haben das zum Anlass genommen, seine Argumentation aufzugreifen und das Thema Auracast hier einmal kontrovers zu betrachten.
Induktion: bewährt und barrierefrei
Seit über 20 Jahren werden Induktionsanlagen erfolgreich in Kirchen, Theatern und öffentlichen Gebäuden eingesetzt. Mit einer einzigen Schleife und einem Verstärker (ca. 2.000 €) lassen sich Räume bis 20 x 50 Meter problemlos versorgen. Auch wenn es bei Metallverlusten aufwendiger wird, bleibt Induktion technisch robust, zuverlässig und vor allem barrierefrei. Jeder, der ein Hörgerät mit T-Spule trägt, kann die Signale ohne Zusatzgeräte empfangen – unabhängig vom Hersteller, ohne App, ohne Smartphone.
Die wechselvolle Geschichte neuer Techniken
Die Hörakustik hat schon viele „Heilsversprechen“ gesehen:
- Infrarot: sollte die Induktion ablösen – heute praktisch bedeutungslos.
- FM-Anlagen: haben ihre Nischen gefunden, aber die Induktion blieb.
- Roger-Systeme: ebenfalls nur Zusatzlösung.
- WLAN-Streaming: klang verlockend, enttäuschte aber durch hohe Latenzen und technische Hürden.
Trotz all dieser Innovationen blieb die Induktion bestehen, weil sie einfach funktioniert. Nun soll Auracast alles besser machen – doch die Parallelen sind offensichtlich.
Auracast: teuer und sozial ausgrenzend
Derzeit ist Auracast meist nur in teuren Premium-Hörgeräten verfügbar. Zuzahlungen von mehreren tausend Euro pro Gerät sind die Regel. 80 % der Schwerhörigen sind im Rentenalter – die meisten können sich solche Geräte nicht leisten. Damit wird Auracast sozial ausgrenzend. Noch schlimmer: Selbst „normales“ Bluetooth ist nach über zehn Jahren nicht in allen Kassenhörgeräten freigeschaltet – obwohl es technisch vorhanden und für Hersteller kostenneutral wäre. Viele Funktionen werden künstlich per Software eingeschränkt.
Komplizierte Bedienung statt Barrierefreiheit
Auracast wird als einfach und komfortabel beworben, die Praxis sieht anders aus:
- Es gibt zwei inkompatible Varianten in Hörsystemen.
- Hörgeräte können nicht eigenständig agieren oder selbst scannen und sind auf eine App oder den Auracast-Assistenten im Smartphone angewiesen.
- Nur wenige Android-Smartphones im Premium-Segment bieten diesen Assistenten; iPhones sind derzeit außen vor.
- Einrichtungsschritte: Ladebox und Strom, Bluetooth-Kopplung, App-Steuerung, ggf. Passwort – in der Praxis komplex.
Gerade für ältere Menschen ist das unzumutbar: Viele nutzen kein Smartphone oder nur sehr eingeschränkt. Barrierefreiheit sieht anders aus.
Technische Probleme: Latenz, Sicherheit, Reichweite
- Latenz: 30–80 ms Verzögerung. Mundabsehen wird erschwert oder unmöglich; Echo- und Halleffekte können auftreten.
- Sicherheitsrisiko: Fake-Sender können offizielle Streams kapern; in sicherheitsrelevanten Bereichen wie Flughäfen oder Bahnhöfen ist Auracast daher problematisch.
- Reichweite: Praktisch 20–30 m. In Europa sind für Klasse 1 nur 10 mW erlaubt; Feuchtigkeit (Regen, Nebel) dämpft 2,4-GHz-Signale zusätzlich. Große Hallen müssten dicht mit mehreren Sendern (Repeatern) ausgerüstet werden – teuer und aufwändig.
Schon auf dem Abstellgleis?
An der Nachfolgetechnik wird längst gearbeitet. UWB (Ultra Wide Band) gilt bereits als potenziell leistungsfähigere Alternative, etwa für immersives Audio. Auracast könnte also bald wieder von einer neuen Technik verdrängt werden.
Die T-Spule bleibt
Mehrere große Hersteller betonen, dass sie weiterhin die Induktion unterstützen. Oticon und Starkey setzen konsequent auf T-Spulen; auch neue Geräte anderer Marken kombinieren T-Spule und unterschiedliche Funkstandards. Parallel dazu läuft die Kampagne „Hands off our Telecoil“ der EFHOH – als klares Signal gegen eine vorschnelle Abschaffung der bewährten Technik.
Fazit
Auracast wird derzeit mit großem Werbeaufwand als zukunftsweisende Lösung präsentiert. Bei genauer Betrachtung zeigen sich jedoch viele Einschränkungen: hohe Kosten, komplizierte Bedienung, soziale Ausgrenzung, technische Unsicherheiten und Sicherheitsrisiken. Demgegenüber ist die Induktion seit Jahrzehnten bewährt, barrierefrei, zuverlässig und für alle zugänglich. Sie erfüllt nach wie vor ihren Zweck – ohne dass dafür zusätzliche Geräte, Apps oder komplizierte Bedienabläufe notwendig wären.
Gleichzeitig gilt: Die Zukunft wird zeigen, welche Technik sich am Ende wirklich durchsetzt. Neue Entwicklungen sollte man nicht vorschnell verteufeln, aber auch alte und funktionierende Systeme nicht vorschnell über Bord werfen. Wünschenswert ist, dass Innovation nicht auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen wird, sondern dass Fortschritt und Barrierefreiheit Hand in Hand gehen. Nur so können technische Neuerungen ihren eigentlichen Zweck erfüllen – nämlich das Leben der Menschen zu erleichtern, anstatt es zu verkomplizieren.
Bildquellen:
- roles_how_to-1024x662_800x500: Insinuator.net
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